Samstag, 9. Juni 2007

14
Als Daina aus der Arbeit kam war sie erschöpft. Es war Montag und sie hatte den ganzen Tag lang Telefonate mit Geschäftspartnern geführt. Wenn sie mal ein paar Augenblicke Zeit hatte zu verschnaufen, wanderte ihr Blick zu dem Schreibtisch im Büro gegenüber, an dem ich einst gesessen hatte und an dem nun eine hübsche, dynamische Jungakademikerin saß und ihr bestes gab um vor dem Chef einen gute Figur zu machen. Daina erinnerte sich noch genau an meine Tischpflanze, die Fotos von Freunden und die vielen kleinen bunten Notizen, die ich mir auf meinen Bildschirm zu kleben pflegte.
Es schien ihr, als würde diese neue Person in jeder Sekunde, die sie an diesem Tisch arbeitete, mein Andenken schänden. Mein Tod hatte schlussendlich dazu geführt, dass sich Daina hin und wieder Gedanken darüber machte, was es im Leben außer der Arbeit und ihrem kleinen Fernseher sonst noch geben könnte und manchmal, vor allem in diesen traurigen und einsamen Momenten, schien es ihr, als gäbe es Dinge, die viel größer und bedeutender sind als all diese alltäglichen Begebenheiten.

In den letzten Jahren war Daina vermehrt auf der Suche nach Liebe gewesen. Sie hatte nach diesem einen Partner gesucht, der sie unterstützt wenn es ihr schlecht geht, der sie pflegt, wenn der Stress überhand nimmt. Und doch hatte sie nie jemanden gefunden, der lange bei ihr bleiben wollte, denn was sie nicht verstanden hatte war, dass diese Dinge, nach denen sie bei ihren Partnern gesucht hatte, nicht die wahre Liebe waren. Dies waren nur die Bequemlichkeiten einer Beziehung, nicht ihre Quelle.
13
Eines morgens wachte Daniel auf und erkannte, dass er allein war. Er lag in seinem Bett und spürte neben sich den Atem seiner Frau an seiner Schulter. Doch es war nicht seine Frau. Es war die Frau des Mannes, der aus ihm geworden war, den die Arbeit und das Streben nach Erfolg aus ihm gemacht hatten. Es war nicht er, dieser Mann war ihm nicht einmal ähnlich. Nicht er war der Mann, den diese Frau liebte. Sie liebte den Mann, der gelernt hatte es allen recht zu machen, sich anzupassen, um in jede Backform und jedes Klischee zu passen wenn dies nötig war. Dieser Mann war nur noch eine Mischung aus all den Ansprüchen, die sein Umfeld an ihn hatte. Er verfügte nicht mehr über einen eigenen Stil, eigenen Humor, eigene Träume. Um Erfolg zu haben hatte er sich selbst verkauft und er hatte es nicht einmal gemerkt.
Eines morgens wachte Daniel auf und erinnerte sich daran wie er einmal gewesen war. Er war nicht fehlerfrei, makellos oder jedem sympathisch, er war einfach Daniel gewesen. Daniel, ein Mensch mit Fehlern, Ecken und Kanten. So wie Menschen eben sind bevor sie die Gesellschaft zurechtschleift.
Eben an diesem morgen erkannte Daniel, dass ihn der Erfolg weder glücklich noch zufrieden gemacht hatte und als er in den Spiegel blickte erkannte er sich selbst nicht mehr. Er sah den Haarschnitt, den sein Vorgesetzter mochte, das glatt rasierte Gesicht, das seine Kunden so schätzten und den Ring an seinem Finger, der nötig gewesen war um ihm die notwendige gesellschaftliche Stellung zu verschaffen.
Er beobachtete seine Frau, wie sie langsam aufwachte und begriff, dass sie nur seine aufgesetzte Fassade und nicht sein eigentliches Ich liebte, denn dieses kannte sie kaum. Und er wusste, dass auch er sie nicht liebte. Nicht sein eigentliches Ich.